Meinem Neffen und meiner Nichte gewidmet

„Diese Wolkenbildung gefällt mir nicht“, sagte der holländische Kapitän. „Wenn das so weitergeht, werden wir, sobald wieder Schwerkraft herrscht, tiefer fallen als wir gestiegen sind. Der Ozean ist ein Abgrund!“

„Was bedeutet das“, sagte ein Matrose, „dass wir da unten stranden werden?“

„Unter diesen Umständen ist Zerschellen das richtige Wort!“

„Und wenn wir aus allen Wolken fallen“, sagte der Erste Steuermann feierlich, „es ist für mich eine Ehre, mit dem fliegenden Holländer die sieben Meere befahren zu haben!“

„Acht“ und „Danke“, sagte der Kapitän.

Zeitlich etwas zuvor und weiter unten und viel weiter südöstlich rieb sich Stefan den schmerzenden Arm. Der Professer ist Schuld, dachte er, dieser verrückte Professor! Stefan erinnerte sich noch an den genauen Wortlaut, mit dem ihm dieser vorgestellt worden war, Jahre zurück: „Das ist Ihr Auftraggeber, Herr Professor Doktor Doktor Doktor Doktor Wolff, honoris causa“.

„Angenehm, Herr Doktor Doktor Doktor Wolff, mein Name ist Strunz!“ hatte Stefan gesagt.

Und die ersten Worte seines neuen Auftraggebers waren folgende gewesen: „Herr Professor und viermal Doktor, mit Verlaub, Strunz!“

Im Nachhinein kann man oft nicht sagen, ob ein Ausruf der Überraschung bereits ausgestoßen wurde, als der Ast, an dem man hing, unvermittelt brach, oder erst während des Falls. Meist erinnert man sich auch nicht daran, zu welchem Zeitpunkt man genau die Worte „O nein!“ ausstieß – und ob sie in den Schmerzensschrei übergingen oder von diesem abgelöst wurden.

„O nein!“ hatte jedenfalls Stefan ganz erstaunt gesagt, obgleich er damit gerechnet hatte, dass es geschehen würde. Aber auch das ist eigentlich nicht selten, dass man etwas erwartet und dann doch erstaunt ist, wenn es passiert. In diesem Fall war es noch weniger verwunderlich, denn was ihm widerfahren war, erlebte man schließlich nicht alle Tage!

Stefan war wie vom Baum gefallen, nur andersrum. Und jetzt klebte er an der Decke. Zumindest war das kurz sein Eindruck, der natürlich verkehrt war, wie ihm bewusst wurde, als er nicht auf den Fußboden zurückfiel, wie er im ersten Augenblick angenommen hatte und wovor er sich weiterhin fürchtete, sondern sich da oben frei (?) bewegen konnte, als ob er sich weiterhin auf dem Boden befände. Glücklicherweise hatte er beim Fallen – beim Fallen? beim Steigen? – seinen Arm auszustrecken vermocht, um den Stoß abzuschwächen, der jetzt allerdings gebrochen zu sein schien. Heinz neben ihm hatte weniger Glück gehabt. Während er seine Blicke wie im Traum zwischen Heinz und der altbekannten und doch so fremden Büro-Welt mit diesem hässlichen, drahtigen Fußboden unter ihm, dessen Sinn er nie ganz zu erfassen vermocht hatte, hin und her gleiten ließ, klingelte sein Handy. Betäubt, wie er noch immer war, fiel es ihm erst einmal aus der Hand. Wild schossen seine Arme durch die Luft in dem Versuch, das Handy zu ergreifen, bevor es auf den Fußboden fiele. Eine unnötig heftige Reaktion, wenn man bedenkt, dass das Handy auf dem Bauche des halb liegenden und halb sitzenden Stefan landete.

„Häschen, geht’s Dir gut?“

„Mäuschen, wie schön, Deine Stimme zu hören.“

„Die sind alle in den Himmel gefahren!“

„Ich weiss!“

„Ich hab‘s Dir ja nicht geglaubt, aber die sind alle in den Himmel gefahren! Bis zu einem gewissen Punkt des Himmels jedenfalls. Und Peter steckt im Baum. Er konnte sich an den obersten Ast klammern und hat sich dann in die Krone gehangelt. Und da war ein Kind, das Trampolin sprang... und dann sprang es samt dem Trampolin in die Luft. Wie geht es Heinz?“

„Heinz? Der ist... der befindet sich neben mir.“

„Das freut mich, dass Du jemanden bei Dir hast, der nicht auf den Kopf gefallen ist.“

„Leider doch!“

„Heisst das...“

„Leider ja! Ich kann’s kaum fassen... Und Du?“

„Ich war dabei, die Betten zu machen. Ich hatte ein Kissen in der Hand.“

„Verstehe! Ein glücklicher Umstand.“

„Ich bin mit dem Kopf auf dem Kissen gelandet.“

„Verstehe!“

„Und Du?“

„Vielleicht hab ich mir den Arm gebrochen. Nicht der Rede wert. Moment!“

„Was? Den Arm?“

„Moment! Da unten bewegt sich was.“

„Was?“

„Die Sekretärin!“

„Wo?“

„Ich ruf Dich zurück.“

Stefan richtete sich auf.

„Frau Schröder, können Sie mich hören?“

„Herr Strunz? Mein Kopf! Wo... wo sind Sie?“

„Hier unten... ich meine hier oben!“

„Wo?“

„Schauen Sie nach oben!“

„Was machen Sie denn da oben und warum fallen Sie nicht runter?“

„Frau Schröder, bewegen Sie sich nicht!“

„Träume ich? Mir ist das Blut zu Kopfe gestiegen!“

„Bitte folgen Sie meinen Anweisungen! Sie haben Glück gehabt, weil Sie zwischen Tisch und Stuhl eingeklemmt sind. Und weil der Tisch an den Boden geschraubt ist.“

„Das ist kein Glück, das ist immer so!“

„Fahren Sie langsam rückwärts, aber heben Sie sich gut fest! Ich werde Sie auffangen!“

Frau Schröder fuhr, wie angewiesen, langsam nach hinten. Aber dann ging alles recht schnell. Stefan konnte zwar den Stuhl abwehren, der schnurstracks auf ihn zukam, aber erhielt fast im selben Moment einen brutalen Fußtritt von Frau Schröder verpasst, die seitlich auf ihn zuzufliegen schien, während sie sich oben einen Moment lang kramphaft an der Tischplatte festhielt. Dann ließ sie los. Stefan, der zu Boden gegangen war, rollte sich schnell zur Seite, um weiteren Schläge zu entgehen.

„Guter Sprung!“ lobte Stefan und befühlte seine schmerzende Backe. Mit einer gewissen Anstrengung kam er wieder auf die Beine.

„Warum haben Sie mir das nicht gesagt?“

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“

„Sie hätten mir was sagen müssen!“

„Hätten Sie mir geglaubt?“

Die Sekretärin schaute Stefan nicht an, sondern durchs Fenster, auf das sie dann gemeinsam zugingen, wie einem Bann verfallen, wie auf einen unhörbaren Befehl hin. Was sich ihnen eröffnete, verschlug ihnen den Atem. Oben (gemeint ist das neue „oben“, also das frühere „unten“) sah alles fast normal aus, dachte Stefan im ersten Augenblick, wenn auch beklemmend leer – und wie eine Art von Spiegelung der Realität! Nichts und niemand bewegte sich auf den Straßen. Stefan beobachtete den Rasen, der wie aus einem Bilderbuch zu kommen schien, weil sich jedes Hälmchen so perfekt aufgerichtet hatte. Die Äste der Bäume schienen unter der Last der Äpfel zu stöhnen, die gen Himmel wiesen, so wie die unzähligen Blätter. Fast normal? In keinster Weise, sondern ganz und gar verkehrt, dachte Stefan. Mehrere Häuser glichen Köpfen mit Haarmangel oder Haarausfall; auch ein paar Glatzköpfe waren auszumachen. Hinter einigen der Fenster der Häuserreihe ihnen gegenüber waren dem Himmel zugewandte Gesichter zu erkennen, denen ein offenstehender Mund kennzeichnete, der auch Stefan und Frau Schröder ins Gesicht geschrieben stand.

Ein Apfel löste sich und flog, kleiner werdend, auf das unwirkliche Bild zu, das in steter Bewegung befindlich sich den Beobachtern erschloss, ein Bild, das zu begreifen schwerer war als alle Werke der Kunst, die Stefan zuvor betrachtet hatte. Es war, wie wenn man eine unsichtbare Welt von oben betrachte. Das Wort Vogelperspektive kam Stefan in den Sinn und dass er der Vogel war, der in den Abgrund blickte. Menschen und Autos wendeten dem Betrachter, der ja selbst dem Himmel zugewandt stand, Köpfe und Dächer zu. Eine Menge Hunde und Katzen befanden sich zwischen ihnen. Über Waldregionen sah der Tierhimmel ganz anders aus und war an Menschen rar. Menschen und Tiere schienen wie in einer Wolke von Müll zu schweben, der aus allem bestand, was man sich vorstellen konnte (aus Fahrrädern, Skateboardss, Dachziegeln, Mähmaschinen, Kaffeetassen, Decken, Schränken, Büchern, Schränken mit Büchern, leerstehenden Kinderwägen und solchen mit Kindern drin, die schrieen oder vergnügt das Abenteuer annähernder Schwerkraft erlebten, ein Gedanke, der Stefan kurz etwas neidisch werden ließ). Über Menschen, Füchsen und Igeln flogen verstört die Vögel. Und weiter hinten oder weiter unten im Himmel flogen Flugzeuge (glücklicherweise weiter hinten, weiter unten)!

Es gab viel Geschrei, das aber nicht durch die dicken Fensterscheiben des Wissenschaftlichen Privatunternehmens für Wegweisende und Bahnbrechende Neuerung drang. Und es gab leider und natürlich Tote und Verletzte. Einige Stellen des Himmels, am und überm Horizont, waren dunkel gefärbt, sahen aus, als seien sie durch explosionsartige Erschütterungen gegangen. Am unwirklichsten aber stach der entfernte See mit dazugehörigem Fluss ins Auge. Auf einem Boot saßen klatschnasse Personen, die in irgendeinem erhebenden Moment eine sicher recht traumatische Umdrehung vollzogen haben mussten.

Stefan ertappte sich bei dem Gedanken, ob der fallende Apfel einer dieser schwebenden Personen am Kopfe treffen werde – und mit welcher Aufprallgeschwindigkeit. Ein Seitenblick auf die Sekretärin weckte in ihm die Vermutung, dass sie sich mit ähnlichen Gedanken trug. Der Apfel jedoch kam neben einem kleinen Mädchen zum Stehen oder Liegen (oder Gleiten), das ihn alsbald ergriff, um genüsslich in ihn hineinzubeißen. Neben ihm fuhr ein kleiner Junge weiter Fahrrad, ohne vom Fleck zu kommen. Wie dünn wohl die Luft dort oben war und wie lang sie reichen würde? Alles schien sich langsam, sehr langsam fortzubewegen. Nur schwer konnte Stefan sich von dem Bild lösen.

„Die Welt steht Kopf!“ sagte Sekretärin Schröder.

Stefan sah um sich. „Wir haben nicht viel Zeit!“

„Wofür?“

„Um den verrückten Wissenschaftler zu stoppen und die Welt zu retten!“

„Sie meinen Herrn Professor Doktor Doktor Doktor Doktor Jürgen Wolff?“

Honoris causa, genau den! Ich hätte schneller handeln müssen. Aber es war nur eine Vermutung. Immerhin scheint er sich verrechnet zu haben. Wartet wohl, bis alles aus dem Blickfeld verschwunden ist. Das ist sein Plan, ganz sicher! Deswegen hat er noch nicht wieder auf den Knopf gedrückt!“

„Welcher Knopf?“

„Vielleicht sind die Leute noch zu retten!“

„Welcher Knopf?“

„Der Knopf, der die Schwerkraft aufhebt und sie wieder zurückgibt, je nachdem. Doch setzen wir uns in Bewegung!“

Stefan ergriff den Bürostuhl, auf dem Frau Schröder gesessen hatte, durchquerte den Raum und stellte ihn an die Wand unter die Türe. Dann stieg er auf den Stuhl, streckte sich aus, erreichte den Türdrücker, öffnete und zog sich gleichzeitig nach oben, wo er auf der Stelle des Türrahmens zu stehen kam, der kurz zuvor der obere gewesen war. Er half Frau Schröder hoch, die sofort auf der anderen Seite in den Gang hinunter sprang. Auch hier, so wie im ganzen Gebäude, war der Fußboden über ihnen mit dem hässlichen, drahtigen Teppich belegt oder vernietet.

„Ein Knopf für Schwerkraft? Das ist unmöglich! Das ist Science Fiction!“

„Science, ja; Fiction, nein! Sie sehen’s doch selbst! Und wo haben Sie denn die letzten Jahre über gearbeitet, Frau Schröder? Vorsicht! Treten Sie nicht aufs Glas!“

Inmitten des Gangs gab es jetzt Fensterplatten, um Tageslicht einzulassen, das von unten zu ihnen drang.

„Ich hab ja nie verstanden, was wir da genau machen!“ sagte Frau Schröder.

„Das hat keiner, nicht einmal der Professor mit seinem Hang zum Philosophieren über diverse Quantentheorien. Er versuchte beispielsweise, Quantenfeldtheorien mit der Stringhtheorie in Einklang zu bringen. Vielleicht wissen Sie das? Ich kann Ihnen nur sagen, dass das, was wir hier erleben, mit Experimenten im Bereich der Quantengravitation zu tun hat, die sich nicht, wie die allgemeine Relativitätstheorie, nur auf die Gravitation beschränkt. Jedoch war es gerade die Anziehung, der Wolff die größte Beachtung schenkte. Sodann benutzte er sein Wissen, um die Lagrange- oder Librations-Punkte zu beeinflussen und irgendwie zu verschieben, die er nur zu studieren vorgab.“

„Was für Punkte?“

„An denen die Gravitationskräfte zweier benachbarter astronomischer Objekte und die Fliehkraft der Bewegung einander aufheben.“ 

„Wie soll denn das gehen?“

„Was fragen Sie mich? Das fällt in den Bereich der Himmelsmechanik, einem weiteren Lieblingsfeld unseres hoch verehrten und tief geschätzten Professors. Ich hab von alledem nicht die geringste Ahnung! Ich weiss nur, dass die Körper, die sich ansonsten in irgendeiner wie auch immer gearteten Weise anziehen, an diesen Punkten kräftefrei sind.“

„Was für Körper denn?“

In diesem Moment ging die Tür am Ende des Ganges auf und ein dick eingemummter Mann sprang mit gezückter Pistole durch sie hindurch und auf die Glasfläche hinab, die ihn vom Himmel trennte.

„Was ist denn das für ein Aufzug, Herr Doktor?“ Frau Schröder schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Marc van de Visen, die rechte Hand des Teufels!“ sagte Stefan.

„Strünzchen, der Mann, der Lunte roch und sie dennoch nicht zu löschen vermochte!“ sagte Marc und bewegte sich langsam auf sie zu.

„Allem Anschein nach haben Sie vom Gravitationswechsel gewusst und Vorkehrungen getroffen!“

„Kluges Bürschchen, schlau, schlau, schlau! Wegen Ihnen mussten wir unser Himmelfahrtskommando vorverlegen! Aber Sie werden uns keine weiteren Unannehmlichkeiten bereiten!“ Marc schien die Situation sichtlich zu genießen.

„Sie werden mich doch nicht erschießen?“

„Ach, wissen Sie, Strunz, einer mehr oder weniger fällt nicht gerade ins Gewicht! Oder was meinen Sie?“

Stefans Augen weiteten sich kurz, als er hinter der Türe einen Kopf erscheinen sah und dann einen Finger, der sich vertikal über die Lippen legte.

„Retten Sie uns, Herr Klein!“ schrie Frau Schröder aus Leibeskräften.

Nun begann van de Visen eine im Vergleich zum Arbeitsaufwand erstaunlich langwierig anmutende Prozedur des sich Umdrehens, wofür sein Aufzug maßgeblich veranwortlich war, und zielte sodann einen Moment lang auf die leere Öffnung, was Stefan dazu nutzte, erst auf Marc zu und dann ihn anzuspringen. Marcs erhobenen Pistolenarm nach unten zu pressen war nicht so leicht, wie Stefan sich das ausgemalt hatte, aber es gelang ihm schließlich doch, den durch die Bekleidung recht dick gewordenen Marc eher schlecht als recht zu umarmen. Marc, außer sich vor Wut, begann damit, sein Magazin zu entleeren, was natürlich keine gute Idee war, wenn man an die Glasplatten denkt, auf denen sich die Streitenden befanden. Keinen Moment zu früh ließ Stefan los und sprang zur Seite. Das Glas barst mit gewaltigem Krach und Marc flog durch die Öffnung gen Himmel, verabschiedete sich mit einem Ausruf der Verblüffung, der in einen Schrei der Angst überging, und wurde schnell unter den großen Augen Stefans und der Sekretärin kleiner, die ihrerseits langsam auf die Öffnung zugeschoben wurden.

Auf der anderen Seite war Herrn Kleins Kopf bereits seit einiger Zeit wieder aufgetaucht. „Legen Sie sich flach auf den Boden und robben Sie in meine Richtung!“ sagte er.

Der Anweisung wurde schnell Folge geleistet. Während Stefan sich schlängelnd auf die Tür überm Gang zubewegte, sah er, wie Marc weit unter sich zwischen zwei Polizisten zu Halten kam, die ihn sofort in Gewahrsam nahmen, entwaffneten und Handschellen anlegten. Überhaupt schien da unten im Himmel eine Art von Organisation stattzufinden. Das Geschrei von Verletzten und Verängstigten war zwar noch immer groß, schien aber im stetigen Abflauen befindlich. Vielleicht beratschlagte man weitere Schritte. Der Mensch gewöhnt sich an alles!

Mit der Hilfe Thomas Kleins kletterten sie durch die Türe, die zu einem Versammlungssaal führte, den Stefan schon oft betreten hatte, der aber so fremd auf ihn wirkte, als ob er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekäme. Danach nahmen sie einen anderen Gang und ließen zur Rechten und Linken Räumlichkeiten hinter sich, die von diversen Wissenschaftlern dazu genutzt worden waren, um mit Welt bewegenden Kleinigkeiten zu experimentieren und so für die Verbesserung der Lebensqualität der Menschheit einzustehen. Währenddessen erzählte Klein, wie er aus seiner Betäubung erwacht, aus dem Fenster geschaut, über alle Maßen erstaunt gewesen und dann Marc gefolgt sei, selbst einer Eingebung folgend – und weil er wissen wollte, was es mit der seltsamen Aufmachung auf sich hatte. Danach waren Stefan und Frau Schröder mit Erzählen dran.

„Wie kamen Sie ihm auf die Schliche?“ sagte Klein.

„Ich ahnte schon bald, dass unseren hoch verehrten und tief geschätzten Herrn Professor nicht nur hehre Beweggründe motivierten. Es ist ja bekannt, dass man heutzutage Tsunamis und Erdbeben verursachen kann, während man sich selbst ganz wo anders befindet. Warum also nicht die ganze Welt aus der Bahn werfen? Für den schlechtesten Film finden sich Schauspieler! Und diesen Eindruck machte der Professor schon ziemlich bald auf mich.“

Als sie die nächste Hürde in Form einer weiteren einfachen Türe überwunden hatten, gelangten sie in den Aufenthaltsraum, der sie vom Ziel ihrer kleinen Reise trennte, der Örtlichkeit, wo die Wegweisende und Bahnbrechende Neuerung stattfand. Da standen einige Wissenschaftler, verbeult und verkratzt, am Fenster und beobachteten den schönen neuen Himmel, ohne die drei Neuankömmlinge zu bemerken.

„Weder Schwerkraft noch Schwerelosigkeit!“ sagte gerade Schulz.

„Offensichtlich gibt’s da hinten Schwerelosigkeit, zumindest bis zu einem gewissen Grad – in einem sich bewegenden Feld zwischen Himmel und Erde, weil die Schwerkraft lediglich versetzt wurde. Die Flugzeuge scheinen in einem selben oder zumindest ähnlichen Verhältnis weiter in den Hintergrund versetzt worden zu sein, was ich als eine positive Nebenwirkung bezeichnen möchte!“, sagte Kühn.

„Während wir es hier oben eher mit einer Umkehrung oder vielmehr einer Kehrtwende der Schwerkraft um 180 Grad zu tun haben“, sagte Graf.

„Ja. Die Frage ist nun: Sind die Möglichkeiten konstant? Ich nehme an, dass wir uns alle einig sind, dass das die Kernfrage ist!“ sagte König.

„Denn die Bewegung der Himmelskörper ist langsam, aber stetig!“ sagte Schulz.

„Wie das wohl sein muss, da zu schwimmen!“ sagte Scholz.

„Luft ist nicht Wasser! Was die da tun, ist etwas anderes: sie hangeln sich vorwärts!“ sagte Vogt.

„Vorwärtshangeln? Woran denn?“ sagte König.

„Aber nicht doch! Weiter hinten! Da schwimmen welche im Wasser!“ sagte Scholz. „Das habe ich gemeint!“

„Aber in einem Gewässer, das sich in der Luft befindet und mit Wolkenbildung beginnt!“ sagte Vogt.

„Wohin diese Wolken wohl ziehn werden?“ sagte Schulz.

„Und worauf sie regnen werden?“ sagte König.

„Und in welche Richtung?“ sagte Graf.

„Wir müssen die Welt retten!“ sagte Stefan.

„Strunz! Sie leben! Wir leben! Wir können atmen! Und die da unten oder oben, wie man’s nimmt, auch! Juhu!“

„Warum geht Ihr nicht rein und drückt auf den Knopf?“

„Wir haben’s versucht, aber nicht geschafft,“ sagte Kühn. „Und drinnen ist Wolff... ich meine: Herr Professor Doktor Doktor...!“

„Was kümmert uns Wolff, diese Bestie in Menschengestalt?“ Stefans Handy klingelte. „Ihr macht jetzt sofort die Tür auf, egal wie! Ihr seid Wissenschaftler, Ihr werdet einen Weg finden! Wenn ich fertig bin mit dem Gespräch, möchte ich die Tür offen sehen! Frau Schröder, Herr Klein, gehen Sie den Herren zur Hand!“

Stefan drehte sich um und nahm sein Handy ans Ohr.

„Mäuschen, wie verkraftest Du alles?“

„Glücklicherweise war ich nicht in der Küche, Häschen. Stell Dir vor: Die ganzen Messer stecken in der Decke... im neuen Boden, meine ich!“

„Aber nicht mehr lange, das versprech ich Dir! Geht’s Dir gut?“

Im Hintergrund tuschelten die Wissenschaftler.

„Ich sitz grad auf dem Sofa und schau Nachrichten.“

„Was? Das Fernsehen funktioniert noch?“

„Ich hab mich auch gewundert. Unsere Kabel sind lang und haben gehalten. Der Apparat hat sich gedreht, so dass ich mich gar nicht gross verrenken muss, um Nachrichten zu schaun.“

Im Hintergrund ging irgendeine Operation, ein Experiment vielleicht, vor sich.

„Ich versuch’s mir grad vorzustellen! Was sagen die denn?“

„Dass unsere Gegenfüßler in den Antipoden noch auf den Beinen sind und die Mutigsten sich weiterhin raus trauen. Je weiter man in unsere Richtung kommt, desto weiter ist Mann und Maus, Kind und Kegel an- und abgehoben, Lebewesen und Gegenstände, die bis zu uns eine perfekte und einmalige Spiral-Drehung beschreiben. Bewegende Einzelschicksale gibt’s da, beispielsweise der Fall einer Betagten mit einem Stock, der noch den Boden berührt. Auf der Suche nach Zuflucht arbeitet sie sich unaufhaltsam voran. Oder die Geschichtes eines Mannes, der eingekesselt zwischen zwei Bären schwebt. Walfische und Haie durchziehen weiterhin die Ozeane, Delphine springen weiterhin durch die Lüfte überm Wasser, allerdings ohne sich groß vom Fleck zu bewegen. Sie nennen ihn den Tag, der uns immer als der Tag im Gedächtnis bleiben wird, an dem uns der Himmel auf den Kopf fiel.“

„Die wissen doch nicht, was sie reden! Wenn, dann ist‘s doch umgekehrt! Aber auch das geht nicht! Gibt es schon Zahlen?“

Im Hintergrund fand eine moderate Explosion statt.

„Was war das?“

„Mein Signal! Ich muss auflegen!“

„O nein! Matilde!“

„Was ist mit ihr?“

„Ihr Kind hat so geschrien, da hat sie‘s nicht mehr ausgehalten! Sie ist zu ihm geflogen.“

„Ach ja?“

„Jetzt umarmen sie sich. Ich bin gerührt! Ich glaub, sie wird ihm die Windeln wechseln.“

„Du, ich muss los! Noch was: Leg das Kissen nicht aus der Hand! In keinem Moment!“

„Und Du, Häschen, nimm Dich vorm bösen Wolf in Acht! Dieser Professor mit den Doktortiteln ist gemeingefährlich!“

Stefan drehte sich um und sah in die erwartungsvollen Gesichter der geduldig im Rauch und Nebel versammelten Wissenschaftler.

„Frau Schröder und meine Herren Wissenschaftler, wir werden dem Spuk ein Ende bereiten! Operation Schwerkraft ist im Gang!“

Frau Schröder und die Wissenschaftler folgten Stefan in den hohen Raum, der einen Halbkreis darstellte, dessen gerundetes Ende gleichzeitig den äußersten westlichen Punkt des Forschungszentrums darstellte. So wie sie eintraten, blieben sie stehen, große Augen und Münder machend. Natürlich betraten sie diesen Raum mit den hohen Säulen und den mächtigen Glasfenstern ringsherum, die in eine beeindruckende Glaskuppel übergingen, nicht zum ersten Mal, aber was sie sahen, verschlug ihnen dennoch die Sprache. Sie fühlten sich wie in die Kommandobrücke eines Schiffs versetzt, das die Weiten eines hellen, blauen All-Ozeans durchzog, unter dem die Bewohner einer unsichtbaren Welt schwebten. Vom verrückten Piloten des Raumschiffs keine Spur!

„Ich  nehme an, das Glas ist sicher“, sagte Stefan, betrat kurzentschlossen das Glas und hielt auf die Mitte des Raums zu. Als sie sahen, dass ihm nichts geschah, folgten ihm die anderen. Über sich sah Stefan den hässlichen, drahtigen Fußboden, mit dem auch die hohen Säulen und Zwischenräume der Glasplatten verkleidet worden waren, die Wegen glichen. In der Mitte über ihnen, genau überm Kuppelglasauge, gab es eine kreisrunde, säulenartige Erhöhung von etwa anderthalb Metern, auf der ein Knopf im Sekundenrhythmus grün aufleuchtete, auf den Stefan verwies. „Das ist unser Ziel!“ sagte er.

Frau Schröder und die Wissenschaftler folgten seinem Blick.

„Wir werden eine menschliche Leiter errichten und diese erklimmen!“

Frau Schröder und die Wissenschaftler schauten einander an.

„Freiwillige vor!“

Frau Schröder und die Wissenschaftler schauten betreten zur Seite, versuchten, Stefans Blick auszuweichen.

„Ich bin eine Dame!“ sagte Frau Schröder.

„Herr Kühn?“

„Mein Bein ist gebrochen!“

„Schulz?“

„Bei mir sind’s die Rippen!“

„Scholz?“

„Dislokation, Luxation!“

„Klein?“

„Höhenangst!“

„König?“

„Unwohlsein!“

„Vogt?“

„Ich bin mir noch nicht im Klaren!“

„Graf?“

„Ich hol die Leiter!“

Es stellte sich heraus, dass die Leiter, die Graf schnell herbeigebracht hatte, nicht lang genug und die Bildung einer menschlichen Leiter nach wie vor vonnöten war. Graf, der Stärkste von allen, ging in die Hocke und wurde vom König bestiegen. Den König huckepack nehmend, richtete Graf sich auf und wankte zu einer der Säulen. Assistiert von den anderen und die Säule als festen Punkt zur Hilfe nehmend, kam Stefan nach einiger Anstrengung auf Königs Schultern zu sitzen.

„Jetzt aber los!“

Sogleich setzte Graf sich in Bewegung, begleitet von den Herren Wissenschafltern Vogt, Klein, Kühn, Schulz und Scholz, die darauf bedacht waren, der menschlichen Leiter auf dem Weg in die Mittes des Raums etwas mehr Festigkeit zu verleihen und Graf, so gut sie es vermochten, zu entlasten. Torkelnd wie ein betrunkener Matrose kamen sie voran und traten endlich in die kreisrunde und gläserne Vertiefung inmitten des Raums, die vom entgegengesetzten Punkt des Raums aus gesehen immer wie das geöffnete Glasauge der Kuppel gewirkt hatte.

„Ich bin dem neuen Himmel näher, als mir lieb ist“, sagte Graf.

Vogt reichte Stefan die Leiter, doch so sehr sich dieser auch anstrengte, streckte und dehnte, er vermochte es nicht, den Knopf zu drücken. „Wir brauchen noch einen Mann – oder eine Frau! Jemand muss die Leiter hochsteigen!“ sagte Stefan.

„Das verkrafte ich nicht, meine Beine werden schwach!“ sagte Graf.

„Mich schmerzen alle Glieder!“ sagte König.

„Das sieht man nicht alle Tage“, sagte Herr Professor Doktor Doktor Doktor Doktor Jürgen Wolff, honoris causa, alias der verrückte Professor.

Fast wäre die menschliche Leiter im ersten Schrecken und in den mit weiteren Schrecken angefüllten Folgemomenten und in dem Versuch, die Richtung zu bestimmen, aus der Wolffs Stimme erscholl, in sich zusammengebrochen. Stefan sah um sich und meinte, aus den Augenwinkeln herausschauend eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Da krabbelte etwas hinter einer der Säulen hervor und über den nicht zu weit entfernten Fußboden direkt auf ihn zu, etwas, das den Eindruck eines gefährlichen Raubtiers vermittelte. Es war natürlich der Professor, dessen Bekleidung aus demselben Stoff bestand, aus dem der Fußbodenteppich gemacht war, aus hässlichem Draht. Während Wolff sich ihnen näherte, gingen Spezialkleidung und Spezialteppichbelag einen steten Prozess der Verbindung und Trennung ein. Wolff hielt inne. „Möchte keiner das Schweigen brechen?“ sagte er.

„Extravagant, Ihr Kostüm, ich muss schon sagen – und so eigentümlich wie Marcs Klamotten!“

„Nicht wahr? Nun, Strunzi, ich war schon immer auf Draht! Leider haben Sie uns einen Strich durch die Rechnung gemacht!

„Ich fühle mich geehrt!“

„Die Ehre wird Ihnen nichts nützen, denn die Rechnung wird dennoch aufgehen! Ich gewinne so oder so! Sie wollen diesen Knopf hier drücken, nicht wahr? Natürlich wird Ihnen das nicht gelingen! Es war trotz allem sehr nett, Ihnen bei Ihren spaßigen Anstrengungen zuzuschauen, meine Dame und Herren! Mein Plan war’s, die Menschen per Knopfdruck direkt ins All hinauszuschießen. Dabei haben Sie mir übringes alle geholfen, in der ein und anderen Weise, wofür ich Ihnen von Herzen dankbar bin, wofür ich Sie auch bezahlt habe über die Jahre hin. Jetzt heißt es allerdings abwarten, bis die Menschheit abgedriftet ist. Das ist zwar außerplanmäßig, führte aber zu dieser netten Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Situation, in der wir uns jetzt befinden. Wir sitzen sozusagen alle im gleichen Boot. Und jetzt müssen wir uns ein wenig gedulden! Und der Traum der schönen, neuen Welt wird wahr! Eine Welt ohne Bevölkerungsexplosion! Eine Welt mit einer sich endlich erholenden, regenerierenden Natur! Und auch Sie, meine Dame und Herren, zählen zu den Überlebenden, also werden Sie einsichtig und erfreuen sich, so wie ich das tu, an der Leichtigkeit des Seins!“

„Spielen Sie nicht den Weltverbesserer, Professor Scheusal!“

„Sie haben weder die mindeste Ahnung noch die geringste Chance, Stefan! Mit jeder Sekunde, die vergeht, entfernt sich die ehemalige Weltbevölkerung weiter vom Planeten Erde. Das einzige, was Sie durch einen erneuten Knopfdruck bewirken würden, wäre ein entsetzliches Blutbad, bewirkt durch die Masse an menschlichen auf die Erde niederregnenden Kometen. Abgesehen davon gliche unsere Welt eine Zeitlang einem geschlossen hochgehenden Minenfeld. Wollen Sie das, Strunz? Wollen Sie das wirklich? Denken Sie an die Flugzeuge und Autos und an die Tankstellen, auf die sie niederschießen werden, um nur ein paar Beispiele zu nennen, Sie Möchtegern-Wissenschaftler!“

„Und Sie sind der Wolf im Schafspelz schlechthin, das genialste Hirn aller Zeiten!“

Der honoris causa richtete sich auf, stellte sich auf die Beine, war Stefan jetzt recht nah.

„Spotten Sie ruhig! Sie waren ja noch nie auf den Mund gefallen! Aber Sie kommen mir nicht mehr in die Quere! Sie haben mir genug geschadet! Ohne Sie hätten wir mehr Zeit gehabt, unsere Erkenntnisse und Berechnungen zu perfektionieren. Aller Müll da oben befände sich bereits außer Reichweite, im All verstreut, und ich hätte schon lange wieder aufs Knöpfchen drücken können. Aber das wird noch!“

„Sie sind verrückt!

Unten stöhnte der Graf.

„So wie ich das sehe, bin ich der einzige im Raum, der noch immer mit beiden Beinen auf dem Boden steht! Und nicht nur, was diesen Raum betrifft, sondern den gesamten Erdraum! Alles, nicht nur Sie, sondern der gesamte Weltraum, wendet mir seine Köpfe zu!“

Die menschliche Leiter beschrieb eine kleine Bewegung, hervorgerufen durch das kurze Einknicken des linken gräfischen Beins. Graf aber korrigierte fast im selben Moment den Kurs, seine ganze Kraft dabei aufbietend.

„Das ist nicht ganz richtig, Sie ehrenloser vierfacher Doktor! Zumindest, was unsere Antipoden anbelangt, so strecken uns diese weiterhin die Füße entgegen und bleiben somit nach wie vor zwar nicht unsere, aber doch Ihre Gegenfüßler, Herr Doktor Doktor! Auch das ist, wissenschaftlich gesprochen, sicher nicht uninteressant, könnte aber Ihre Pläne durchkreuzen! Sie scheinen das nicht gewusst zu haben?“

„Einen weiterer Zeitverlust auf dem Weg zum Wohle unseres geliebten Planeten nehme ich gerne in Kauf!“ sagte Wolff, dem man die Enttäuschung ansah.

Unten knickte Graf ein und wuchtete sich gleich darauf erneut hoch, verlor dabei das Gleichgewicht und stolperte nach vorne. Stefan nutzte die Gunst der Stunde – oder der Sekunde, besser! – und ließ die Leiter auf den Wolff niedergehen, der sich einen Augenblick zuvor im Widerstreit der Gefühle befunden hatte, einerseits betrübt durch Stefans Eröffnung über die Standhaftigkeit auf den Antipoden, andererseits in der freudigen Erwartung des Verlusts derselben in der menschlichen Leiter vor sich. In seiner Verblüffung und gefangen zwischen den Sprossen verpasste der Wolff beide Chancen, zum einen die Möglichkeit, sich aus der Gefangenschaft zu befreien, und zum anderen die Gelegenheit, seine Pistole sprechen zu lassen. Vielmehr fiel letztere aus seiner Hand und in die Hände Frau Schröders. Indes hatte Stefan schon damit begonnen, die Sprossen auf den Professoren zuzuklettern. Diesem war verborgen geblieben, dass Stefan ihn zuvor in Richtung der säulenartigen Erhebung mit dem Knopf obenauf geschoben hatte. Unter Stefan hatte König eine Geistesgegenwart bewiesen, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Er hatte es irgendwie vermocht, dem Grafen auf den Kopf tretend, die letzte Leitersprosse zu packen. Der Graf war zwar unvermutet getroffen, kehrte aber sogleich wieder in seine Ausgangsposition zurück, aufs Neue assistiert durch die Dame und Herren Wissenschaftler. Die menschliche Leiter, jetzt sozusagen gänzlich ausgefahren und recht perfekt diagonal verlaufend und zumindest hierin anderen Leitern nicht unähnlich, blieb also intakt. Über ihnen hatte Stefan den Professeron erreicht und hielt ihn ähnlich wie zuvor Marc van de Visen mit den Armen umschlungen.

„Schnell, kommen Sie alle hochgestiegen, einer nach dem anderen!“

„Aber...“

„Ohne wenn und aber! Ich weiss nicht, wie lange wir uns hier oben festhalten können! Folgen Sie also einfach meiner Anweisung und klettern schnellstmöglichst hierher! Jetzt! Helfen Sie bitte der Dame!“

An der menschlichen Leiter stiegen zuerst Kühn (mit dem gebrochenen Bein) und Schulz (mit den gebrochenen Rippen) hoch, um Stefan (mit dem gebrochenen Arm) mit der Leiter und dem Gefangenen (mit dem Größenwahn) behilflich zu sein, an dem sie sich festhielten, um nicht in die Kuppel unter ihnen zu stürzen, sodann die Dame (mit der Zierlichkeit), die sich erst an Stefans Arm und dann an eins der Beine des Professors klammerte. Es folgten Scholz (mit der Luxation), der sich an der obersten Sprosse, Klein (mit der Höhenangst), der sich an der zweitobersten Sprosse, und Vogt (mit der Unsicherheit), der sich an der drittobersten Sprosse festhielt. Dann hangelte sich Graf (mit der Erschöpfung) am König (mit dem Unwohlsein) hoch und teilte sich mit diesem die unterste Sprosse. Während diese Operation – wichtige Teiloperation der Operation Schwerkraft – vonstatten ging, hatte sich ein absurdes Gespräch ergeben.

„Sie Mörder!“ sagte Schulz.

Herr Professor Doktor Doktor Doktor Doktor honoris causa Jürgen Wolff wehrte ab.

„Ich bin Wissenschaftler und Weltverbesserer! Zudem befinden sich Planet Erde und nähere Umgebung in einem für Forschungszwecke einmaligen Zustand!“

„In einem unhaltbaren!“ sagte Scholz.

Herr Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. h.c. Jürgen Wolff wehrte ab. „Das sehe ich durchaus anders!“ sagte er.

„Jetzt wird’s mir aber zuviel!“ sagte Kühn laut.

„Wer laut wird, hat Unrecht!“

„Nicht in diesem Fall!“ sagte Kühn, schreiend.

„Bitte fassen Sie sich“, sagte Stefan.

„Am liebsten würde ich Sie fallen lassen!“ sagte Kühn zu Wolff.

„Bringen Sie ihn nicht auf dumme Gedanken!“ sagte Stefan. Jedoch sah er, dass Professor Wolff sozusagen die Hände gebunden waren, denn sowohl Kühn als auch Schulz hingen jetzt an und von des Professors Armen. Zum Glück waren dessen Spezialkleidung und der hässliche Drahtboden eine feste Verbindung eingegangen.

„Ich hätte Sie allesamt schon lange auf den Mond schießen sollen!“ sagte Wolff.

„Jetzt springt mir aber gleich der Draht aus der Mütze, Herr Professor!“ sagte Kühn, wie am Spieß schreiend, außer sich vor Wut.

„Ruhe!“ sagte Stefan.

„Jetzt machen Sie aber, Stefan, drücken Sie auf den Knopf, bevor hier eine Kettenreaktion vonstatten geht!“ sagte Schröder. 

„Die wird’s so oder so geben!“ sagte Wolff.

Stefan war bereits dabei, seine Beine um Kühn zu schlingen. Daraufhin setzte er sich auf, schob sich noch etwas in die Tiefe, hielt sich mit beiden Händen an den Seiten der säulenartigen Erhebung fest und verharrte.

„Was ist denn jetzt schon wieder los?“ sagte Klein.

„Ich muss überlegen! Unzählige werden sterben, wenn ich drücke!“

Der Professor lachte. „Lassen Sie sich ruhig Zeit! Je weniger überleben, desto besser!“ sagte er.

„Das Inkaufnehmen des Todes so unzähliger Menschen scheint Ihnen recht leicht zu fallen, Wolff!“

„Mich wurmt lediglich, dass Leute wie Sie überleben werden!“

„Das einzige Leid, das Ihnen nicht fremd zu sein scheint, ist das Selbstmitleid! Welch Armutszeugnis!“

„Jede Sekunde, die verlorengeht, wird mehr Menschenleben fordern!“ sagte Scholz.

„Denken Sie an jene, die Sie retten! Drücken Sie jetzt!“ sagte Vogt.

„Warten Sie nicht länger! Jede Sekunde zählt!“ sagte Klein.

Nach bangen Sekunden, die Ewigkeiten glichen, sagte Stefan: „Ich drücke, aber Ihr versprecht mir folgendes: Sobald ich’s tu, rennt Ihr zu den festgeschraubten Tischen dort hinten und kriecht unter sie! Denken Sie dran, dass Sie, je schneller sie machen, desto mehr Menschenleben retten!“ Er verwies auf die breite und hohe Wand hinter ihnen, die nur von der Öffnung unterbrochen wurde, die von den Herren Wissenschaftlern freigesprengt worden war. Dort stand eine Reihe von in sich übergehenden Tischen. „Verstanden?"

Die Dame und Herren hatten verstanden.

„Nun drücken Sie schon auf den Knopf!“ sagte Schröder.

„Wissen Sie, Strunz, irgendwann oder irgendwo hätte alles wie gewünscht funktioniert, aber nicht jetzt und nicht hier! In der ein oder anderen Art und Weise wird sich das hier jedoch wiederholen, nur die Karten werden anders gemischt sein. Ob Sie drücken oder sich drücken, so oder so gehen Sie als Verlierer aus dem Spiel hervor!“

„Haben wir‘s jetzt wieder von der Quantenphysik?“ sagte Schulz.

„Sie irren sich, Professor! Das ist kein Spiel, der Moment ist jetzt und der Ort ist hier! Und der Verlierer sind Sie!“ sagte Stefan und drückte auf den Knopf, der sogleich rot zu leuchten begann. Leiter und Menschen gingen neben dem Herrn Professor zu Boden.

„Was warten Sie? Husch, husch, unter die Tische! Schnell! Jede Sekunde zählt, das haben Sie mir selbst gesagt!“

Während die Dame und Herren sich aufrafften und dem Gebot der Stunde – oder besser, der gegenwärtigen Sekunden! – folgten, zog Stefan dem verblüfften Wolff erst die Handschuhe und dann die Fußbekleidung aus, um sie sich gleich darauf selber überzuziehen.

„Was rücken Sie mir auf den Pelz?“ sagte Wolff verwundert.

„Was tun Sie da?“ sagten König, Graf und Vogt wie aus einem Munde.

„Bleiben Sie, wo Sie sind!“ sagte Stefan und ging halb um die säulenartige Erhöhung herum, um aus der Reichweite des Wolffs zu kommen, nur um im selben Augenblick erneut auf den Knopf zu hauen, der nun wieder ein grünes Licht aufwies.

„Was glauben Sie, das Sie tun?“ sagten Schulz und Scholz.

„Ich hab mir den Kopf angeschlagen!“ sagte Kühn.

„Ah, ich meine zu verstehen!“ sagte Klein. „Das ist eine Probe, nicht wahr? Dasselbe werden Sie dicht vor dem Aufprall der Menschheit tun, um diese zu retten!“

„Das ist richtig, aber nicht alles, Herr Kühn! Ich habe nämlich daran gedacht, dass man auf den Antipoden noch mit beiden Füßen auf dem Boden steht.“

„Wie können Sie von unseren Antipoden sprechen, wenn auf der gegenüberliegenden Seite unserer Erde nur Wasser ist?“ Wolff, der ahnte, was kommen würde, war ein schlechter Verlierer.

„Fletschen Sie ruhig die Zähne, Wolff, aber Sie werden niemanden mehr beißen können! Neuseeland ist für mich nah genug. Und ins Wasser gefallen ist nur Ihr Versuch, die Menschheit zu dezimieren!“

Wieder betätigte Stefan den Knopf und wieder wechselte der seine Farbe. Eins, zwei und Knopf drücken. Rotes Licht. Eins und Knopf drücken. Grünes Licht. Die ersten Male ließ er das grüne Licht etwas länger leuchten, in der Hoffnung, dass jene auf der Erde Verbliebenen die Zeit fänden, sich auf einen sicheren Platz für die nächsten Erschütterungen zu besinnen, um diesen dann in den kurzen Momenten der Normalität sofort aufsuchen zu können. Eins, zwei, rot; eins, grün. Eins, zwei, rot; eins, grün. Es war ein langwieriger Prozess. Schon bald machte sich ein großes Schweigen breit, an dem sich selbst der böse Wolff beteiligte, der zuerst noch versucht hatte, um die säulenartige Erhebung herum- und auf Stefan zuzurobben, aber gleich darauf von Sekretärin Schröder und der Pistole in ihren Händen eines Besseren belehrt worden war. Alle, ohne Ausnahme, schauten wie gebannt durch die Kuppel und Wände aus Glas auf die Menschheit, die sich ruckweise auf die Erde, Richtung Heimat, zubewegte. Es wurde Nacht und es wurde Tag, und noch immer, wie im Traum, zählte Stefan: „Eins, zwei... eins... eins, zwei... eins.“ Jene, die eingeschlafen waren, erwachten nach und nach, schauten wieder in den Himmel unter und über, unter und über, unter und über ihnen.

„Stefan, lassen Sie mich ran, Sie müssen sich erholen!“ sagte Graf.

Das ließ sich dieser nicht zweimal sagen. Während das Licht grün leuchtete, wechselten drahtige Beinbekleidung und Handschuhe den Besitzer. Wolff war ganz kleinlaut geworden, malte sich wohl aus, was ihn erwartete. „Werden Sie ein gutes Wort für mich einlegen?“ sagte er.

„Nein!“, sagte Stefan, wankte zu einem der Tische und legte sich unter diesem schlafen. Als Kind hatte er Träume gehabt und geliebt, in denen er fliegen konnte. Drei Jahrzehnte hatte er sie missen müssen, aber diese Nacht konnte er wieder fliegen.

Weiter nordwestlich setzte ein holländisches Schiff, das den Himmel befahren hatte, ohne das Gewässer zu wechseln, mit diesem auf den Gründen der Erde auf, um diese erneut zu füllen. „Die meisten glauben nur, was sie sehen“, sagte der Kapitän, „und jetzt sollten sie wissen, dass das ein Fehler war. Aber ob sie’s einsehen werden, ist eine andere Frage.“

Walfische und Haie durchzogen wieder die Ozeane, Delphine sprangen wieder durch die Lüfte überm Wasser. In den Wäldern Alaskas kam ein Mann zwischen zwei Bären zu stehen, die sich wie Lämmer verhielten und den Mann ungehindert seines Wegs ziehen ließen.

Todesfälle waren zu beklagen, Knochenbrüche gab es zuhauf, Quetschungen, Prellungen, Unwohlsein, Traumata und vieles mehr, aber besonders verblieb die Angst in den Herzen der Menschen, plötzlich erneut den Halt unter den Füßen zu verlieren.

Anmerkung: Auf diese Kurzgeschichte basierend habe ich bereits das Drehbuch für den Comic „Operation Schwer(kraft)“ erstellt, der allerdings ernster im Ton ist. Zum Projektbarometer kommst Du hier!