Wahrscheinlich das Eigentümlichste, das ich in jungen Jahren erlebte, war die Sache mit dem Wandelnden Spiegel. Dieser war, nachdem er erkannt hatte, eine unbekannte Krankheit aufzuweisen, auf der Suche nach Heilung in der ganzen Welt umhergereist, jedoch überall als unheilbar entlassen worden. Später aber hatte der Wandelnde Spiegel, wie man ihn bald darauf nannte, herausgefunden, dass seine Krankheit keine Krankheit im eigentlichen Sinne war, sondern dass er durch sie vielmehr anderen, die wirklich krank waren, offenlegen konnte, in welchem Maße sie es waren. Daraufhin erstellte er eine Therapie, die lediglich darin bestand, dass sein Gegenüber ihm ins Gesicht schauen musste, eine Prozedur, die zwar selten zur Heilung des Patienten führen, ihn aber zuweilen doch verändern würde. Obgleich der Wandelnde Spiegel niemals Medizin studiert hatte, nannten ihn seine Besucher Arzt und Doktor, wohl weil sie sich in seiner Anwesenheit des Eindrucks nicht erwehren konnten, Patienten zu sein, deren Krankheit dicht davor stand, sie zu verzehren.

Man erzählte sich zum Beispiel, wie ein selbstgerechter Mann in der Gewissheit vor ihm Platz genommen habe, über alles und jeden hoch erhaben zu sein. Als ihm aber der Wandelnde Spiegel das Gesicht zuwandte, fühlte er sich zutiefst beklommen. Das Gesicht, das ihm vor Augen stand, war das eines völlig von sich eingenommenen Menschen, dem nichts – abgesehen von sich selbst – wichtig zu sein schien. Dieser Anblick war ihm höchst zuwider und er nahm sich soeben vor, niemals der ihm gegenübersitzenden Schreckgestalt zu gleichen, als er bestürzt feststellen musste, dass er selbst diese Gestalt war. Er erkannte, wie seine Eigenliebe ihn selbst und andere zerstörte, und schloss erschüttert die Augen.

Anstatt aber auf die Stimme seines eben erwachenden Gewissens zu hören, ergrimmte er darüber, erkannt worden zu sein, schlimmer noch, dass er selbst seinen wahren Charakter hatte erkennen müssen. Erbost öffnete er die Augen und zuckte im selben Moment zusammen, weil die schrecklichen, zu Schlitzen gewordenen Augen des Wandelnden Spiegels ihm alles andere als Gutes verhießen. Auch der Wandelnde Spiegel war zusammengezuckt. Im Gesicht des Spiegels fand eine erstaunliche Veränderung statt. Er nahm einen so von Angst erfüllten Ausdruck an, dass dem Patienten der Mund einen Moment lang weit offen stehen blieb, während er gleichzeitig seine Überheblichkeit zurückgewann. Als sich seine Gefühle im Gesicht des Arztes widerspiegelten, sah dieser Wandel so unnatürlich und furchterregend aus, dass er aufsprang, um den Behandlungsraum fluchtartig zu verlassen.

Ein weiterer Mann, so erzählte man sich, sei in einem derart apathischen Zustand bei ihm erschienen, dass er später nicht mehr in der Lage gewesen war zu erklären, wie er überhaupt den Weg in das Sprechzimmer des Wandelnden Spiegels gefunden hatte. Als dieser ihm das von tiefer Trauer gezeichnete Gesicht zuwandte, starrten sich beide etwa eine halbe Stunde lang beinahe regungslos an. Irgendwann kam der Patient zu dem Schluss, dem Wandelnden Spiegel müsse geholfen werden, da ihn seine Melancholie sonst in einen frühzeitigen Tod reißen würde, und so sandte er ihm ein zunächst fast unmerkliches Lächeln. Und tatsächlich, das Unfassbare geschah: Der bis dahin todtraurig dreinblickende Wandelnde Spiegel schickte seinerseits ein Lächeln – und sein Gesicht taute auf wie der Frühling nach dem Winter.

Einen Moment lang fühlte sich der Patient befreit von aller Sorge und beglückt, einem anderen Menschen geholfen zu haben. Es war das schönste Gefühl, das ihn jemals durchflutet hatte. Doch es gab sogleich altbekannter Bedrängnis Raum, als der Patient sich seinem persönlichen Herzeleid zuwandte, das ihn niederdrückte wie zuvor; und als er endlich aufsah, saß auch der Arzt in sich versunken und hilflos da, als ob ihn nicht das Geringste trösten könne. Und plötzlich stöhnten sie beide schmerzvoll auf, als der Mann schaudernd feststellen musste, dass der Wandelnde Spiegel seinen Namen zu Recht trug, dass er ein Spiegel war, obgleich er nicht – wie Spiegel es normalerweise tun – lediglich das Äußere des jeweiligen Betrachters aufzeigte, sondern in gewisser Weise und im besonderen auch dessen Inneres. Gebrochen trat er aus dem Behandlungszimmer – vielleicht auf der Suche nach einem Lächeln und des Gefühls, das ein solches bewirken konnte.

Als mir diese und ähnliche Geschichten zu Ohren kamen, nahm ich mir vor, dem Wandelnden Spiegel einen Besuch abzustatten. Nicht weil ich krank war, sondern rein interessehalber. So ließ ich mir einen Termin geben und sah dem kommenden Ereignis nicht ohne Spannung entgegen.

Bereits in der Nähe der ärztlichen Stätte kam ich an einem kleinen Kiosk vorüber. Da mir noch etwas Zeit verblieb, blätterte ich kurz in einer Zeitung, ärgerte mich über das, was ich da las und machte grundlos den ergrauten Kioskbesitzer für meinen Ärger verantwortlich. „Sie können den Leuten wirklich nur schlechte Nachrichten verkaufen!“

So geschah es, dass ich aufgrund dieser Lappalie nicht gerade reinen Gewissens im Wartezimmer saß und der Dinge harrte, die mich hier erwarteten.

Die meisten der anwesenden Personen schienen vor ihrer Unterredung mit dem Onkel Doktor alles im Griff zu haben. Sobald sie aber das Behandlungszimmer verließen, schauten sie wirr von einem zum andern – wie Menschen, die plötzlich erfahren haben, wie schlecht sie im Grunde sind und jetzt nicht wissen, ob sie sich überhaupt ändern wollen.

“Der Nächste, bitte!”, ertönte eine weibliche Stimme, die mich aus den Gedanken riss. Eine Krankenschwester mit dunkler Sonnenbrille führte mich zum Behandlungszimmer, das schwarz wie die Nacht gewesen wäre, wenn da nicht etwas Licht vom Fenster eingefallen wäre, das einen Spaltbreit offen stand. Sie machte Halt und wies auf einen Stuhl, auf den ich mich setzte. Dann schloss sie von außen die Türe.

Vor mir erkannte ich schemenhaft eine Person, die den Blick gesenkt hielt. Jetzt schaltete sie ein schwaches Licht ein und schaute prüfend in mein Gesicht. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, aus der sich immer mehr die Gestalt des Arztes zu schälen begann. Ich versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu wirken. Da sich meine Bemühungen im Gesicht des Arztes wiederholten, bei ihm aber nicht zu fruchten schienen, wirkte sein Anblick recht komisch, so dass ich mir das Lachen nicht verkneifen konnte. Da veränderten sich auch die Züge des Wandelnden Spiegels und formten sich zu einem Grinsen, das mir zuwider war. Die Grimasse verschwand und der Spiegel nahm eine lauernde, abwartende Haltung ein. Nach einiger Zeit begann ich zu schwitzen, da ich den starren Blick des konzentrierten Arztes und die wachsende Spannung in meinen Gliedern nicht mehr länger ertragen konnte. Ich schlug die Augen nieder und versuchte, die verlorene Ruhe wiederzuerlangen, um erneut den starken Mann mimen zu können. Doch die Wahrheit ist, dass ich Angst davor hatte, den Blick wieder zu heben. Wie würde der Arzt reagieren? Warum war ich überhaupt hierher gekommen? Zum einen war ich nicht krank und zum anderen der Wandelnde Spiegel kein Arzt! Es war jedenfalls nicht mein Plan gewesen, eine solch lächerliche Figur abzugeben! Ich werde den Spieß umdrehen, sagte ich mir. Ich werde den Herrn Doktor mit meinen Blicken durchbohren! Ich werde ihm zeigen, wer hier das Sagen hat! Ich werde ihn das Fürchten lehren!

Ich hob den Kopf und sah dem Wandelnden Spiegel fest in die Augen, doch der Blick, der mich jetzt traf, schien vielmehr mich selbst durchdringen und mir meinen inneren, bedrohlich akuten Zustand aufzeigen zu wollen, den ich die letzten Jahre über so erfolgreich vor aller Welt und mir selbst verborgen gehalten hatte. Ich bin dem Wandelnden Spiegel hilflos ausgeliefert, schoss es mir durch den Kopf – und ich erschrak zutiefst, als sich auch der Doktor zu Tode ängstigte. Ich wusste nicht mehr, woran ich war und was ich denken sollte. Nervös schaute ich zur Seite, was mir aber sogleich als eine Art von Geständnis vorkam und so verkehrt wie das Schließen der Augen einige Momente zuvor – und als ich gleich darauf meinen Blick erneut auf den Arzt richtete, erkannte ich wohl, dass dessen große Nervosität, die ihm peinlich aufs Gesicht geschrieben stand, meine eigene war. Natürlich versuchte ich, der ich mir keine weitere Blöße geben wollte, sie so schnell wie möglich zu vertuschen, was aber gänzlich misslang, wie mir anhand der ungelenken Bewegungen des Arztes schlagartig bewusst wurde. Jetzt wurde er so grimmig, dass ich gleichzeitig vor ihm und vor mir selbst Angst bekam. Der Arzt wich schaudernd zurück.

Gerade als ich – ziemlich niedergeschlagen und enttäuscht von mir selbst – auf die Straße trat, kam mir ein Mann entgegen, grüßte freundlich und verschwand in der Praxis. Würde es ihm so ergehen wie mir? Das wollte ich gerne herausfinden!

So schlich ich um das Gebäude herum und machte vor dem Fenster des Behandlungsraumes Halt, das etwas Licht eingelassen hatte. Vorsichtig spähte ich hinein. Der Mann hatte soeben Platz genommen und der Wandelnde Spiegel wandte ihm jetzt sein Gesicht zu. Freundlich sahen sich die beiden an. Beider Gesichter waren aufrichtig, als ob es nichts zu verstecken gäbe. So strahlten sie sich gegenseitig an und – fingen nach einiger Zeit zu lachen an! Das Lachen, so stand unzweifelhaft fest, entsprang der Tiefe der Herzen sowohl des Arztes als auch des Patienten. Die beiden zu beobachten, war eine wahre Freude! Selten war ich Zeuge einer so herzlichen Atmosphäre gewesen!

Doch – was war das? Entglitt da dem Wandelnden Spiegel nicht eine Träne und rollte seine Wangen hinab? Das wäre nicht weiter erstaunlich gewesen, wenn das auch seinem Patienten passiert wäre, doch dessen Augen blieben, so weit ich das feststellen konnte, trocken. Meines Wissens nach war es noch nie geschehen, dass der Wandelnde Spiegel eigene Gefühlsregungen mit in die Behandlungen einfließen ließ. Konnte es vielleicht sein, dass er nach so vielen Begegnungen mit egoistischen, gierigen und sich verstellenden Menschen selber eine Therapie nötig gehabt hatte und soeben erhielt? Da schaute er plötzlich mit einem neugierigen und gleichzeitig traurigen Blick in meine Richtung, als habe er meine Gedanken vernommen. Als ich so unverhofft angestiert wurde, wich ich zurück und verharrte eine Zeitlang im Schatten eines Baumes. Dann machte ich mich wieder auf den Weg.

Nachdenklich schlenderte ich die Straße hinunter, die ich gekommen war, und kam bald wieder an dem erwähnten Zeitungsstand vorüber. Ich hielt inne und beobachtete den Kioskbesitzer, der gerade dabei war, seine Zeitschriften zu sortieren. Lange Zeit stand ich unschlüssig da, doch dann nahm ich mir ein Herz, ging zu ihm und sagte etwas stockend: “Das von vorhin tut mir leid!”

Der Mann schaute mich ungläubig an – mit einem solchen Satz hatte er nicht im entferntesten gerechnet! “Unser kleiner Zusammenstoß von vorhin? Nicht der Rede wert!” Er lächelte.

“Dann gibt es also doch nicht nur schlechte Nachrichten”, sagte ich, während mich ein plötzliches Glücksgefühl überkam. Zwar kann ich mir nicht sicher sein, aber ich glaube, dass etwas von diesem Gefühl auf ihn übergesprungen sein muss, da er mir noch eine Zeitlang hinterher winkte.

Was den Wandelnden Spiegel betrifft, so hatte er viele Freunde; jedoch die Zahl seiner Feinde war ungleich höher. Erschüttert war ich, als ich von seinem frühzeitigen Tod erfuhr. Ein Patient hatte die Offenbarung seines eigenen Charakters nicht verkraftet, nach einer Waffe gegriffen und den Wandelnden Spiegel kaltblütig erschossen. Jener Mörder war aber gleichfalls und fast im selben Moment gestorben, weil er nicht verstand, wie jemand in seinen letzten Zügen liegen und noch so dreinblicken konnte wie er selbst: unvorstellbar grausam, ohne einen Lebenssinn und die Hoffnung, die ein Mensch zum Leben braucht.

Anmerkung: Auf diese Kurzgeschichte basierend habe ich bereits das Drehbuch für den Comic „Der Wandelnde Spiegel“ erstellt, der ernster im Ton ist. Zum Projektbarometer kommst Du hier!