Prolog: DAS INSEKT

Aus einem wunderbar strukturierten und verzierten Ei schlüpfte eine lebenshungrige Raupe und begann sich fortzubewegen. Alsbald begann sie damit, unaufhörlich Nahrung zu sich zu nehmen; sie fraß mit kräftigen Kiefern. Rasch wuchs sie und häutete sich dabei ein ums andre Mal. Als sie bereits eine stattliche Größe erreicht hatte, verwandelte sie sich bei der letzten Häutung in eine Puppe. In diesem Gehäuse fühlte sie sich geborgen und ruhte, so wie es seit alters vorgeschrieben war und es sich für eine Raupe im Stadium der Verwandlung gehörte. Selten bewegte sie sich, und das unmerklich; meist schlief sie. In dieser Zeit fraß sie nichts und dachte nicht einmal an Futter.

Einmal schien es ihr, als ob etwas durch den festen, schützenden Chitinpanzer dringe und sie verletze. Ein Schmerz durchzuckte ihren Körper, doch ein sanfter Luftzug brachte im selben Moment Kühlung, so dass der Kummer nur vorübergehender Natur war; das entstandene Loch im Kokon, verursacht durch einen stürzenden Ast oder eine scharfe Nadel, schloss sich schon bald. Im Inneren des Puppengehäuses war die Raupe zu einem Falter herangereift, der sich durch die innere Metamorphose tiefgreifend verändert und eine vollkommene Verwandlung durchgemacht hatte. Endlich kam die Zeit des Schlüpfens – diesmal nicht als Larve des Schmetterlings und unbeachtete Raupe, sondern als vollendeter Schmetterling selbst. Der fertige Falter sprengte die Puppenhülle und streckte die Fühler vor, mit denen er die Umgebung beroch und abtastete. Kurz darauf kamen auch der Kopf und die Beine zum Vorschein. Als er ganz geschlüpft war, begann der Schmetterling damit, aus dem prallen Hinterleib Blut und Luft in die zunächst schlaffen und am Körper anliegenden Flügel zu pumpen. Einige Stunden dauerte dieser Vorgang, bis die Flügel sich gestreckt und erhärtet hatten.

Es handelte sich um einen prächtigen, farbenfrohen Schmetterling, dessen Pigment- und Strukturfarben das Auge erfreuten. Doch an einer Flügelstelle wies er einen dunklen Fleck auf; dieser war ein Wulst aus verdichteten und zusammengepressten Schuppen – die Narbe einer Wunde, die geschlagen worden war, als der Falter sich in einem wehrlosen Zustand befunden hatte. Vielleicht wurde er deswegen mit der voranrückenden Zeit gnadenloser gejagt als andere Tiere seiner Art, weil er etwas Besonderes war, ein rares Sammlerstück. Aus gewölbten Komplexaugen und zahlreichen Facettenaugen heraus sah er die Schmetterlingsjäger und ihre Netze, die ihm oft gefährlich nahe kamen und neben ihm durch die Luft fuhren. Die Jäger konnte er nur erkennen, wenn sie ganz in seiner Nähe waren, aber er hatte ein gutes Farbunterscheidungsvermögen entwickelt und spürte mit seinen Fühlern die kleinste Erschütterung, so dass es lange brauchte, bis er ihnen ins Netz ging. Allerdings waren seine Flügel stark in Mitleidenschaft gezogen worden, weil er sich bei der Flucht an Zweigen und Blättern gestoßen hatte; Teile der empfindlichen Flügelmembran waren abgebrochen, so dass er sehr zerzaust aussah.

Man brachte ihn in einen Raum, in dem viele verschiedene Schmetterlinge an Wänden hingen, auf Tischen aufgeschichtet waren oder in Sammelkästchen und hinter Glas-Vitrinen lagen. Kleine Bären mit einem zerbrechlichen Körper, tote Monarchen, gefallene Ritter, Edelfalter, Eulenfalter und Bläulinge. Aufgespießt auf verschieden langen und verschieden starken Nadeln oder befestigt auf Spannbrettchen, wo sie trockneten – etikettierte Präparate. Der Leib vieler Falter war gebrochen.

„Sie tarnen sich als Holz, als Blatt; sie blenden uns! Dickköpfe sind das! Lasst sie uns an die Wand schmettern oder ihren Leib zertrümmern!“ Der Mann, der das sagte, stank nach Alkohol, so wie der ganze Raum.

„Wer denkt denn gleich ans Töten?“, erwiderte ein anderer, seinen Mund hämisch verziehend.

Nadeln und Pinzetten lagen herum, auch ein Gasbrenner; in der Ecke stand ein kleiner Ofen. Neben Flügeln und Fühlern und Rümpfen und Köpfen lagen auch aufgeschlitzte Raupen umher. Andere befanden sich in verschlossenen Reagenzgläsern oder Glasröhrchen. Aber dort – bewegte sich nicht ein Schmetterling? Und dort ein anderer? Und da merkte er, dass die meisten der gefangenen Falter noch am Leben waren und irgendwelche Glieder ihrer Körper langsam bewegten. Doch es war eine unheimliche Szene! Die Schmetterlinge besaßen allesamt einen leeren Blick und das Glänzen ihrer Flügel wirkte nicht echt; es war nicht das Leuchten, dass durch Sonnenstrahlen verursacht wurde, sondern der Widerschein greller Neonlampen. Obwohl sie lebendig waren, wirkten sie wie Tote. Dem Schmetterling überkam eine Ahnung und er wagte kaum zu atmen, als er auf den Seziertisch gelegt wurde. Ein Totenkopf* (acherontia atropos) schaute ihn aus leeren Komplexaugen groß an; er sah ihn riesenhaft durch eine vor ihm angebrachte Lupe vergrößert. Überall gab es Flecken auf diesem Tisch; dunkle Flecken, Hinweise auf früheres Leben und vergangene Farbenpracht, Leid, Qualen und Tod.

„Was für ein wertloses Stück! Ist ja behindert!“

Die Jäger lachten ihn aus und nannten ihn einen Schwärmer und einen Spinner, den man präparieren müsse. Plötzlich sprachen sie nur noch von seinem dunklen, wulstigen Fleck, der ihnen ein Dorn im Auge war. Man versuchte mit aller Gewalt, ihn zu entfernen, seine Flügel zu stutzen und ihn flugunfähig zu machen, damit er der Welt seinen Anblick erspare, wie sie es nannten. Die Länge seines Rüssels, der ihm zur Aufnahme der flüssigen Nahrung diente, passte ihnen nicht ins Konzept, so dass sie versuchten, ihm die Form zu geben, die dem gemeinen Schmetterling, dem Schmetterling des goldenen Mittelweges, eigen war; dieser dürfe nur eine ganz bestimmte Nahrung zu sich nehmen. Man wollte auch seine Fühler stutzen, damit sie denen der anderen Falter ähnelten, doch gerade diese Fühler hatte er dringend nötig, um Futterplätze und seinesgleichen aufspüren zu können. Ohne sie würde er verschiedene Gerüche nicht mehr voneinander unterscheiden können; er hätte auch Probleme, sich tastend zurechtzufinden. Er würde ein blinder Schmetterling sein, dazu verurteilt, für immer wie eine Raupe auf dem Boden zu kriechen und das Fliegen zu vergessen.