Der Gekrönte und das Monster

Eines Tages ritt ich durch einen Wald, der kein Ende nehmen wollte. Die Lichtungen gingen zurück, und je tiefer ich in ihn vordrang, desto dichter standen die Bäume. Immer matter drang das Tageslicht durch das Blattwerk und immer schwerer war der Pfad zu erkennen, der mit jedem Tritt unsteter verlief. Nicht lange, und die Sonne ging unter, eine Finsternis zurücklassend, an die sich meine Augen nicht gewöhnten. So ließ ich meinem Pferd die Zügel frei und vertraute darauf, dass sein zartes Gespür uns auf rechtem Wege führen werde. Die fröhlichen Stimmen des Tages waren den unheimlichen Geräuschen der Nacht gewichen. Obwohl mir fast die Augen zufielen, verschwendete ich keinen Gedanken daran, an einem solch unheimlichen Ort das Nachtlager aufzuschlagen. Doch die Stunden verstrichen, ohne dass der Wald einer Lichtung Platz gemacht oder ein Licht den Weg zu einem Gehöft gewiesen hätte. Müdigkeit übermannte mich.

Durch einen harten Ruck kam ich wieder zu mir und griff die Zügel fester. Ich musste für einen Augenblick eingeschlafen sein und wäre dabei fast vom Pferd gefallen. Überall sprangen Schatten, die vor uns auftauchten und hinter uns verschwanden. Ein Gefühl von Hilflosigkeit bemächtigte sich meiner. Eine nicht gekannte Unruhe hatte auch mein Pferd ergriffen, das zuweilen jäh stehen blieb, andere Male von einem zum anderen sprang, nur um dann unvermittelt weiterzuhasten. Schon längst hatte ich die Orientierung verloren und alle Hände damit zu tun, nicht auch die Kontrolle über das Pferd zu verlieren.

Hatte ich da nicht eben ein sonderbares, hechelndes Geräusch vernommen? Ich sah um mich, doch vermochten meine Augen nicht in das Dunkel zu dringen. Das Gefühl, verfolgt zu werden, erfüllte mich mit Schaudern.

Irgendwann – den Sinn für Zeit hatte ich schon lange verloren – geschah unvermittelt mehreres gleichzeitig: Der Mond kam kurz hinter den dunklen Wolken zum Vorschein. Mit einem Schlag wich der Wald, aus dem wir brachen, einer Lichtung, die den Blick auf ein noch in weiter Ferne düster daliegendes Schloss freigab. Im selben Augenblick setzte ein Heulen und Fauchen ein, das mir durch Mark und Bein drang. Das Pferd machte einen erschreckten Satz zur Seite, wieherte wild, verfing sich in einem Gebüsch, strauchelte, bekam sein Gleichgewicht zurück und stürmte aufs offene Feld. Der Mond verschwand ebenso schnell, wie er aufgetaucht war. Es begann zu regnen. Näher und näher kamen wir dem unsichtbaren Schloss, dessen Lage ich nur vermuten konnte, weil die Dunkelheit aufs Neue alles verschluckt hatte. Ein plötzlicher Blitz erhellte das Bild und das zitternde, zu Tode geängstigte Tier hielt jäh vor einem klar sich abzeichnenden Abgrund, der sich für den Bruchteil einer Sekunde vor uns auftat. Am Rande des Abgrunds stand – jetzt in nächster Nähe – das rettende Schloss. Ein letztes Mal gab ich dem Pferd die Sporen und es flog mit äußerster Anstrengung dahin, am Ende seiner Kräfte.

Wieder brach für kurze Zeit der Mond durch die Wolken. In der Nähe gewahrte ich einen Schatten, der sich parallel zu uns und der Schlucht hielt und sich auch mit derselben Geschwindigkeit bewegte, mit der wir dahinschossen. War es dasselbe Wesen, das den grässlichen Schrei ausgestoßen hatte? Schneller als ich denken konnte, tauchte die Umgebung wieder in völlige Finsternis, dunkler noch, als die Dunkelheit des Waldes gewesen war. Die Hufe hallten auf steinernem Boden wider und das Wiehern des Pferdes wurde vielfach von den Wänden zurückgeworfen, in denen wir uns mit einem Mal befanden. Es ging bergauf und ich zog den Kopf ein, um ihn nicht etwa an einer Decke zu stoßen. Das Pferd wechselte ein ums andre Mal die Richtung und blieb dann erschöpft und laut wiehernd stehen, als ein Licht anging, das einen kleinen Hof beleuchtete. Ein gekrönter Mann kam auf mich zu und half mir aus dem Sattel.

“Schnell!”, rief ich mit erschöpfter Stimme, “schnell hinein, dass uns das Untier nicht erreicht!”

Der Mann stieß ein sonderbares Lachen aus und kam meinem Befehl nach. Hinter uns und meinem Pferd, dass sich sofort hinlegte, schloss ich selbst die Türe und sank auf den kalten Steinboden, auf dem mich sofort die Sinne verließen.

Als ich erwachte, fand ich mich in einem prächtig ausgestatteten Raum wieder. Wasser stand bereit, mich zu erquicken. In einer Schale lag Obst, das ich genüsslich verzehrte. An der Wand hingen kostbare Gemälde und feines Geschirr.

Ich öffnete die Türe und stieg eine gewundene Treppe hinab, an derem Ende mich ein Saal von riesigen Ausmaßen erwartete. Ich durchmaß ihn und fragte mich, wo sich wohl Herren, Damen und Diener befänden. Alles glänzte und zog das Auge an, hier eine Rüstung, dort ein Geschmeide. Einzig ein sonderbarer Geruch, den ich mir nicht erklären konnte, der nicht zur Umgebung passen wollte, fiel mir unangenehm auf. Da vernahm ich Schritte und drehte mich um. Der Gekrönte kam mit geöffneten Armen auf mich zu und hieß mich willkommen. Er führte mich sogleich in ein besonderes Zimmer, zeigte mir seine ungeheuren Schätze, die dort gehortet waren, und nahm mich dann hoch hinauf auf einen Turm, dessen gewundene Treppe kein Ende zu nehmen schien und dessen Ausblick mir, einmal oben angelangt, den Atem raubte. Auf der einen Seite zogen sich Berge und Schluchten hin, auf der anderen Wälder, so weit das Auge reichte. Dann gingen wir denselben Weg wieder zurück bis zu dem großen Saal und von dort in ein Nebenzimmer, das festlich zum Mahl geschmückt war.

“Wo sind all die Leute?”, fragte ich.

“Sie sind alle fort!”, sagte er traurig.

“Wohin?”, wollte ich wissen.

Er schaute mich lange wortlos an und sagte dann: “Ich weiss es nicht! Aber ich bin Manns genug, mich selbst durchzuschlagen. Ich benötige keine Hilfe!” Dann erhellte sich plötzlich sein Gesicht. “Mein kostbarstes Stück habe ich dir noch gar nicht gezeigt! Wenn du es siehst, wirst du alles verstehen!”

Er winkte mir, ihm zu folgen, führte mich durch Gänge, in denen immer mehr Unrat und Verfilztes lag, bis zu einem Raum, in dem es stark nach Fleisch roch. Eine Ahnung stieg in mir hoch, doch redete ich mir ein, dass sie unbegründet sei.

Wie träumend sah ich zu, wie der Gekrönte einen Wandschrank auftat, ein blutiges, frisch geschossenes Wild zum Vorschein brachte und es auf den Boden warf. Daraufhin schritt er zum Tor und öffnete es. Starr vor Schreck war ich in der Ecke des Raumes zusammengesunken. Ein kühler Wind machte sich sofort bemerkbar und schon hörten wir das Fauchen, das mich in meinen Träumen verfolgt hatte. Ein Schatten verdunkelte den Raum. Eine schwere Tatze fuhr durch die Luft, dann schob sich ein riesiger, unförmiger und gepanzerter Körper hinterher, der nach und nach den gesamten Raum ausfüllte.

Der Gekrönte lachte aus vollem Halse, als das Untier mit einem Bissen das Wild verschlang und ein zufriedenes Grunzen ausstieß. Er ging auf das schreckliche Wesen zu und graulte es hinter dem Ohr.

“Brav, brav!”, rief er mehrmals aus. Das Untier schnurrte merkwürdig, riss sich plötzlich los und verschwand in einem der Gänge.

“Das macht es immer, mein Haustierchen!”, lachte der Gekrönte und klatschte in die Hände, “lass uns es suchen gehn!”

Ungläubig sah ich ihn an. “Du hältst dir ein Monster!”, brachte ich mühsam hervor. Ich schaute ihm in die Augen, die einen sonderbaren Ausdruck angenommen hatten.

“Nein, nein”, sagte er, “dieses Wesen ist mein Freund, mein größter Schatz. Es braucht mich und es leistet mir Gesellschaft.”

Der Gekrönte wandte sich ab und folgte dem Tier in den spärlich beleuchteten Gang. Die blutige, übelriechende Spur zog sich lange hin, durch unzählige Räume und Gänge, durch den Saal und bis in das Schlafzimmer des Gekrönten.

“Das kluge Tier!”, lobte dieser, als wir es im königlichen Bette schlafend vorfanden.

“Das ist die Möglichkeit, es zu töten!”, frohlockte ich.

“Nein!”, schrie der Mann so laut, dass ich fürchtete, die Bestie könne erwachen.

“Wenn wir es nicht töten, wird es uns töten. Was wir nicht überwinden, wird uns überwinden!”

Ein höhnisches Lachen war die Antwort. “Ich bin der Herrscher und ich entscheide! Dieses Tier ist mir lieb und teuer! Wir verstehen einander! Wir vertrauen einander blind!” Die Flammen in den Augen des Gekrönten schienen jetzt ein Widerschein des verzehrenden Feuers zu sein, das ich zuvor im Blick der Bestie wahrgenommen hatte.

“Dann kann ich hier nicht bleiben”, sagte ich leise, aber bestimmt. “Wo ist mein Pferd?”

Einen letzten Blick warf ich auf das schmutzige Tier im königlichen Bette, dann verließ ich hinter dem Gekrönten das Gemach. Wortlos wurde ich um einige Ecken geführt, bis der Gekrönte die Tür zur Stallung öffnete, in der mich mein Pferd freudig, aber noch immer ängstlich, willkommen hieß. Eine Angst um meinen Gastgeber überkam mich; ich sah kein weiteres Pferd im Stall.

“Komm mit mir! Lass uns fliehen! Jetzt!”

Der Mann schaute mich traurig an. Das wilde Fieber in seinen Augen war verschwunden, hatte einem Ausdruck von Hoffnungslosigkeit Platz gemacht. “Ich kann nicht, ich bin zu schwach!”

“Natürlich kannst du! Du musst sogar, wenn dir dein Leben lieb ist!”

„Meine Reichtümer!”

Er schaute sich langsam im Stall um, als ob sich in ihm die Schätze befänden.

“Vergiss deine Reichtümer, sie nützen dir nichts!”

“Sie würden ohnehin nicht auf dein Pferd passen!”, sagte er wie geistesabwesend. Doch dann nahm sein Gesicht wieder einen zuversichtlichen Ausdruck an.

“Hier habe ich alles, was ich brauche, alles, was mein Herz begehrt. Mein Schloss, meine Wälder, Schluchten und Berge, meine Schätze und mein Haustierchen, das mich braucht und das ich brauche! Da – ich glaube, es ist erwacht! Ich muss schleunigst zu ihm und nach dem Rechten sehen!”

Er umarmte mich und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Dann schritt er zur Tür, grüßte ein letztes Mal und schloss hinter sich ab.

Ich gab meinem Pferd die Sporen und galoppierte wie der Wind auf die Anhöhen zu. Das Gebiet wurde steiler und unförmiger und war jetzt nur noch vereinzelt mit Büschen bestanden. Nach einer gefährlichen Steigung kamen wir auf einer Anhöhe an und machten kurz halt.

Ich sprang aus dem Sattel und sah weit unten das Schloss klein vor mir liegen. Lange Zeit stand ich auf diesem zerschundenen Landstrich und dachte über das Erlebte nach. Als ich mich wieder aufs Pferd schwingen wollte, zerriss ein markerschütternder Schrei die Luft. Daraufhin war ein durchdringendes Fauchen und Knurren zu vernehmen, das – obwohl weit entfernt – so erschreckend klang, dass wir aus Angst den Tag und noch die gesamte Nacht hindurch ritten, ohne Halt zu machen, obgleich das Gebiet, durch das unser Weg uns führte, gefährlich zerklüftet und reich an Abgründen war.